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1. Platz: Yvonne Schwarz – Der Acker der Erinnerungen

Die Sonne tastete sich langsam über den Horizont. Es war noch sehr früh am Tag und es war ein Sommermorgen.

Als der glitzernde Tautropfen sich auf den Halm legte, fing er die Strahlen der aufgehenden Sonne ein und gab sie in einem zauberhaften Funkeln wieder. Könnte er seufzen, hätte er es jetzt getan, denn just erinnerte sich der wässrige Geselle daran, wie er einst als Regentropfen in einer zarten Wolke über die Erde geschwebt war. So leicht so frei über bunte Wiesen, Felder voller Kornblumen und rotem Klatschmohn. In blauem und rotem Gewand lagen damals die sanften Hügel weit unter ihm. Wunderbar.

Die ersten Sonnenstrahlen über der Scholle lockten den Feldhamster aus seinem Bau. Er stellte sich am Feldrand auf seine Hinterbeine und blinzelte in die aufgehende Sonne. Der kleine Nager, der eigentlich eher ein Einzelgänger war, erinnerte sich dennoch, wie sie vordem eine stolze und zahlreiche Sippe gewesen waren, er und die vielen anderen seiner Art. So viele Bauten, so viele Wege hatte es gegeben, hinab in die schützende Erde. Nun aber war er nahezu alleine geblieben auf diesen endlos scheinenden Feldern. Doch heute war es, dass er sich eine Frau suchen wollte. Ein schwieriges Unterfangen. Er putzte sich seine Barthaare und strich hinab über sein schönes braun‐cremefarbenes Fellgewand. Vielleicht hatte er dieses Jahr mehr Erfolg als das vorherige. Vielleicht waren ja doch ein paar schmucke Weibchen dazu gekommen. Er hob die Nase in die Luft und ließ den Wind über die Barthaare streichen. War da nicht ein vertrauter Duft? Nein, er hatte sich wohl doch geirrt.

Ein Distelfalter bereitete sich auf den ersten Flug in den neuen Tag vor. Noch war es kühl, zu kühl für den kleinen zarten Kerl. Schillernde winzige Wasserperlen saßen auf seinen weit geöffneten Flügeln, die die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages aufsogen. Als er sich endlich erhob und über den Acker ansetzte, erinnerte er sich an zahlreiche bunte Blumen und Blüten auf denen er mit vielen anderen bunten Schmetterlingen getanzt und genascht hatte. Für jeden war etwas dabei gewesen, für die Kollegen mit dem langen Rüssel und die mit einem kurzen. Für die dicken, schwerfälligen plumpen Falter und für die leichten, zarten, flatterhaften. Und für ihn hatte es Disteln gegeben. Deren stachelige Köpfe bargen seine Leibspeise und waren damals noch zahlreich an den Rändern der Äcker gewachsen. Heute musste er lange, lange danach suchen. Und was ihm wirklich Sorge bereitete ‐ wohin mit einem Distelfalter, wenn es irgendwann keine Disteln mehr gab?

Der Feldhase klopfte ein paar Mal kurz mit seinen kräftigen Hinterbeinen auf die Erde. So begrüßte er den Tag, jeden Morgen, so sein Morgenritual. Und dann erinnerte er sich wehmütig daran, das hier früher mal ein Kohlacker gewesen war und nebenan ein Acker mit Möhren und Salat. Und im nächsten Jahr hatte der Bauer gewechselt. Mal hatte das Langohr hier, mal dort herrliches Naschwerk gefunden. Damals gab es noch Abwechslung auf der Speisekarte, heute nichts als Mais und Getreide. Wohin er sich wandte, nichts als Mais und Getreide. Der prächtige Hase schüttelte angewidert den Kopf. Noch nicht einmal mehr ein Löwenzahn war hier zu finden.
 
Der Getreidekäfer biss herzhaft in einen Halm. Was ein Büfett. Hier konnten er und seine große Familie sich gütlich tun. Er erinnerte sich mit Schaudern an karge Zeiten, in denen sie sich mühselig ihr Futter zusammen suchen musste. Diese vielen lästigen, nutzlosen Blumen zwischen dem Getreide. Und dann gab es so viele verschiedene Vögel vor denen man sich in Acht nehmen musste. „Puuh!“. Schnell biss er noch einen großen Happen von dem Blatt ab. Aber irgendwie wurde ihm gerade etwas übel. Irgendwie hatte das Blatt so einen merkwürdigen Beigeschmack.

Der Feldsperling schmetterte keck sein Lied über das Feld. Das hier war sein Revier. So sah es jedenfalls der kleine dreiste Kerl. Er erinnerte sich an einen Schnabel voller leckerer Insekten. Es war ein Paradies gewesen, sie waren ihm fast von selbst in den Schnabel geflogen und der Nachwuchs gedieh allemal prächtig. Doch als sein lautes Tschilpen verstummte, nahm eine unheimliche Stille Platz in dem Feld und ihm wurde schlagartig klar, hier gab es keine Insekten mehr. Was sollte er seinen Blagen daheim erzählen, wenn er mit leerem Schnabel zurückkehrte?

Der Bauer ließ von seinem monströsen Traktor aus, den Blick über seine Äcker schweifen. Und wie er so einen Halm neben dem anderen reifen sah, prachtvoll durchaus und doch, wie Soldaten standen seine Maiskolben, das Getreide, dünn und kerzengerade, dünkte ihm auf einmal etwas falsch. Kein Farbtupfer unterbrach das monotone Einerlei, kein noch so kleines Insekt durchzog die Luft, ihm leise etwas ins Ohr zu raunen.

Da legte sich eine leise Wehmut und Beklommenheit auf das Gemüt des Bauern und er erinnerte sich an einen fernen Traum von einem Acker. Es war der Acker seiner Väter gewesen und sollte der seiner Kinder werden. Der Acker, der ihrer aller Erinnerung in sich tragen würde. Die Erinnerung der Tautropfen, der Feldhamster, der Schmetterlinge, der Feldsperlinge, seiner eigenen Kindheit, seiner Vor‐ und seiner Nachfahren. Auf ihm sollten wachsen und gedeihen, die Erinnerung all der Lebewesen, die dieses Stück Erde lebendig werden lassen konnten. Auf einem Acker der bunte Blumen neben Getreide und Gemüse wachsen ließ, Büsche und Brachflächen an seinen Rändern. Ein Acker dem vergönnt war zu ruhen. Ein Acker, der die Erfahrung und das Leben der Jahrhunderte in sich trug.

Und als unser Bauer in diesem Moment begriff, so wuchs in ihm eine Gewissheit. Ein Acker für die ganze Welt konnte nur derjenige sein, der all dies in sich barg und der UNS ALLE, alle Lebewesen gleichermaßen versorgen würde, so wie er es gestern und alle Zeit in der Erinnerung der Alten getan hatte.